Nach chinesischem Recht ist eine Ausreise für Tibeter illegal und wird mit Gefängnis bestraft. Die Kinder begeben sich schon deshalb auf eine gefährliche Reise, die - begleitet von tibetischen Bergführern - zwei bis sechs Wochen dauern kann. Dabei finden 80 Prozent der Fluchtversuche von Tibet nach Nepal zwischen Oktober und April statt, wenn die Berge des Himalayas tief verschneit, die Gletscher gefroren sind und die chinesische Grenzpolizei nicht mehr so oft patrouillieren kann.
Auf ihrer gefährlichen Reise wandern die Flüchtlingskinder zu Fuß durch meterhohen Schnee, überqueren gefährliche Gletscherspalten in Höhen über 5.500 Metern. Um ihre Fluchtabsicht zu verschleiern, sind sie meist unzureichend ausgerüstet und bekleidet und tragen nur wenig Nahrung bei sich. Die Folgen sind Hunger, Unterkühlungen, Frostbeulen, Brüche und Verletzungen durch Ausrutschen auf dem eisigen Boden. Verletzte Flüchtlinge muss der Bergführer auf seinem Weg oft hilflos zurücklassen, wo sie erfrieren, verhungern oder von der chinesischen Polizei verhaftet werden.
Gelingt es den Flüchtlingskindern sich bis zur Grenze durchzukämpfen, müssen sie sich zu Fuß noch weiter bis Kathmandu durchschlagen, hierfür benötigen sie in der Regel zwei Wochen. Anlaufstelle für die Flüchtlinge ist dort das tibetische Flüchtlingslager. In der Klinik des Flüchtlingscenters werden die Flüchtlinge zunächst medizinisch behandelt. Als häufigste Symptome der Flüchtlingskinder werden dabei heftige Erfrierungen, vor allem der Zehen, Bluthusten, Geschwüre, Frostbeulen, Schneeblindheit, Polio und Knochenbrüche diagnostiziert. Da die Zahl der Flüchtlinge in den letzten Jahren wieder stark angestiegen ist, ist das Flüchtlingslager schon seit längerer Zeit dem Ansturm nicht mehr gewachsen, so dass auch die Kinder und Jugendlichen auf Fluren und im Freien übernachten müssen.
Nach oft wochen- und monatelangem Warten ohne jede Beschäftigung im Flüchtlingslager erhalten die Kinder ihre Papiere für die Ausreise nach Indien. Dort kommen sie zunächst in das von der Regierung Tibets im Exil eingerichtet Flüchtlingszentrum von Dharamsala, dem Exilort des Dalai Lama. Höhepunkt für die Flüchtlinge ist eine Audienz beim Dalai Lama, die er regelmäßig für die Flüchtlinge abhält, sich ihre Erlebnisse erzählen lässt und sie tröstet. Anschließend werden die Flüchtlinge – je nach Alter – auf die einzelnen Einrichtungen der Regierung Tibets im Exil verteilt, die Kinder und Jugendlichen werden in eines der Kinderdörfer des Dalai Lama geschickt, wo sie in einer Kombination aus Internat und Schule eine Ausbildung erhalten.
Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen müssen schlimme Erlebnisse verarbeiten. Sie leiden massiv unter der Trennung von ihren Familien und auch unter den Erlebnissen in Tibet und auf der Flucht, die durch Gewalt, Angst, Erschöpfung, Verfolgung, Hunger und Kälte, aber auch den Tod oder das plötzliche Verschwinden von Familienangehörigen und Mitflüchtlingen geprägt sind. Hinzu kommt der Kulturschock "Indien" für die Flüchtlingskinder. Sie sind einer ihnen unbekannten Kultur hilflos ausgesetzt und fühlen sich zwischen einer belastenden Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft völlig orientierungslos. Die Folgen sind erhebliche Gesundheitsstörungen, posttraumatische Beschwerden, Angstzustände, Schlafstörungen und Abkapselung von ihrer Umgebung.